Dezember 2023, Christine Tanner überlegt: "Soll ich, soll ich nicht? Ich bin seit 7 Jahren nicht mehr privat geflogen (Flugscham und so), aber wie sollte ich sonst nach Madeira zur Europäischen Meisterschaft im Berglauf der Masters gelangen? 2024 komme ich in eine neue Altersklasse und steil bergauflaufen liegt mir – doch das will ich erleben!"
6 Monate später stehe ich am Start meines ersten Wettkampfs in Machico. Angesagt ist ein Berglauf über 8km Distanz und ±600 Höhenmeter, verteilt auf zwei Runden. Sie spielen mitreissende Musik zum Aufwärmen. Ich bin so froh hier zu sein und kann den Start kaum erwarten. Ich bin gesund, das gemeinsame Training vom Lauftreff-Buchs hat viel Spass bereitet und mich fitter gemacht, und das Gewicht passt. Unter den Anfeuerungsrufen meiner Swiss Master Running (smrun) Kollegen fällt der Startschuss zum Frauenrennen. Wir stürmen los und ich bin positiv überrascht, in etwa zehnter Position im Gesamtfeld zu sein. Nach einem kurzen Flachstück entlang einer madeirischen „Suone“ beginnt der Anstieg. Prima, das mag ich. Steile Treppen, trockenes Lavagestein, und ein grandiosenr Ausblick - wenn man Zeit hätte. In der Altersklasse W60 bin ich auf dem zweiten Platz. Super – dranbleiben, immer schön am kontrollierten Limit laufen. Nach etwa 20 Minuten und einigen Eisentreppen erreiche ich die Aussichtsplattform. Die Strasse runter, rechts einbiegen – oh, da sind smrun Kollegen – oh, da hätte es Wasser gegeben. Egal ich presche der vor mir laufenden W60 aus Deutschland nach – dran bleiben! Jetzt geht’s im Gelände bergab. Mag ich nicht, habe ich aber trainiert: von Azmoos nach Laferdarsch, zweimal rauf und runter auf dem steilen Wanderweg. Schnelle Schritte und leichtfüssig bleiben. Es hilft nichts, die W60 Dame entfernt sich zusehens. Kilometer für Kilometer geht es bergab, wir sollten allmählich nach links nach Machico abbiegen. Aber es gibt ja immer noch Markierungen, alles bestens.... bis mir eine Läuferin aus Österreich entgegenkommt. „Wir sind falsch, wir sind falsch, wir hätten links abbiegen müssen!“ „Aber da hat es doch Markierungen“ So einfach drehe ich nicht um! Wir laufen weiter und kommen nach 500m zum Rennleiter. „You are wrong! Did you not see the sign to turn left?“ „There was no sign! It’s all marked! We cannot be wrong! How can we get back?” „I show you where you went wrong, get into the car!” Im Auto sitzen schon eine französische und eine spanische Läuferin. Und ab geht die Post durch die kurvigen engen Strassen – ich schnall mich lieber an. Er bringt uns von der Küste zurück zum Wasserposten oben am Berg. „That’s the sign!“ Und tatsächlich, da war ein kleines Schild und neu auch eine Absperrung. Geradeaus ist die ausgesteckte Strecke vom Trailrennen in zwei Tagen und wir wurden angewiesen umzudrehen, wenn wir keine Markierung mehr sehen. Einmal nicht aufgepasst – so ein Mist, ich war doch Zweite und jetzt habe ich etwa 30 Minuten verloren und morgen habe ich auch ein Rennen. Egal, ich laufe fertig fürs Team – aber es wurmt schon gewaltig! Am Ende erfahre ich dass ausserdem die zweite und dritte Läuferin von den Streckenposten auf eine dritte Runde geschickt wurden, da sie mit den Überrundungen durcheinander kamen. Und das bei einer EM – das gibts doch nicht!
Erholen, erholen, erholen. Ein kaltes Bad im Meer, gutes Essen, Beine hochlegen, Selbstmassage, früh schlafen – morgen ist meine Lieblingsdisziplin: Vertical mit 5km Distanz und 1000m Aufstieg. Wir sind nur vier W60 Teilnehmerinnen, aber die eigentlichen ersten drei vom Berglauf (wenn dieser regulär stattgefunden hätte) und eine frische Teilnehmerin. Mit Bussen bringen sie die Teilnehmer:innen und Fans zum Start. Der Bus dreht eine Extrarunde im Kreisverkehr. Es geht eine steile, enge Strasse hinauf, oder doch nicht? Der Bus wendet erneut. Er bleibt stehen. Alle steigen aus – nein, wieder zurück, wir fahren weiter. 30 Minuten vor dem Start der Männer kommen wir an. Gepäck im Bus lassen und tschüss. Wir wandern steil bergauf zum Start bei Santana. Unser Ziel ist Achado do Teixeira. Es ist gar nicht so warm, gut dass ich meine leichte Windjacke mitgenommen habe. Der Boden ist lehmig, die Bäume kleiner und struppig. Toi-Toi hats keine, wir schwärmen aus in den Wald. Die Frauen starten 30 Minuten nach den Männern – gut so, damit gibt es weniger Überholungen. Meine Hauptkonkurrentinnen legen ein hohes Tempo vor, das überrascht mich. Abwarten – der Weg ist noch weit. Als es längere Zeit steiler ist komme ich ran. Am Wegrand feuern mich smrun Kollegen mit Glockengeläut an und ich kann meine Windjacke los werden, was gleich mehr Abkühlung bringt. Euphorisch überhole ich, doch die deutsche W60 bleibt dran. Als es flacher wird, überholt sie. Wird das jetzt so weitergehen und kommt es dann darauf an, wie steil es am Ende ist? Konzentriert bleiben. Es wird wieder steiler und sie wechselt ins Gehen. Ich hole sie wieder ein und überhole mit kräftigen Schritten und Schwung aus dem Armen. Das ging jetzt besser als erwartet. Weiter so und auf die rumänische und britische Läuferin vor mir fokusieren. Bald höre ich nichts mehr hinter mir. In einer Kurve erlaube ich mir einen Blick zurück. Nichts zu sehen, sehr gut! Vielleicht reichts – dass wäre fantastisch. Wir sind jetzt gut 30 Minuten unterwegs und es geht wahrscheinlich nochmal 20-30 Minuten. Kilometerschilder gibts keine und ich laufe Low-Tech ohne GPS-Messung. Wir kommen in die Wolken und der Boden wird rutschiger. Der Abstand zu den Läuferinnen vor mir wird grösser, aber von hinten höre ich immer noch nichts. Endlich queren wir die obere Strasse. Jetzt sind es noch etwa 800m Distanz bis zum Ziel. Hier soll es technisch werden. Ein schmaler Einstieg, ein kurzer, felsiger Abstieg, bei dem ich mich grad noch auf den Beinen halten kann. Ansonst nichts besonders Schwieriges, wenn man öfters in den Schweizer Bergen ist. Ich überhole den Letzten der Männer und es gibt wieder Zuschauer. „Wie weit noch?“ Er kann es mir nicht genau sagen. Ich höre Atmen und Schritte hinter mir. Das kann doch nicht sein, dass sie mich noch im langen Schlussspurt einholt. Ich forciere das Tempo und wage es nicht umzusehen. „How far?“ „Just round the corner“ und da ist es wirklich – das Ziel und ich habe gewonnen! Was für eine Freude, besonders nach dem gestrigen Tag. Ich nehme den ersten Bus zurück – alle sind am Reden über das Erlebte. Später erfahre ich, dass die schweizer Fans weniger Glück hatten. Es gab keinen Bustransport zum Ziel, aber dank des Aufstiegs zur Wasserstelle bei Kilometer 2 trotz 5 kg schwerer Glocke (Merci Ruth!) und telefonieren ergab sich doch noch ein privater Transport. Oben angekommen, war dann leider das Rennen schon vorbei. Bei der Rückfahrt hatte der Bus eine Panne und sie mussten eine Stunde auf Ersatz warten.
Am dritten Tag steht das 33 km lange Trailrennen mit etwas ±2000m Höhenmeters an. Einige laufen nun das dritte Rennen in Folge – unglaublich! Heute gehe ich mit Freude zum Anfeuern, denn Unterstützung auf der Strecke ist enorm hilfreich. Nach dem Rennstart nehmen wir zu sechst zunächst ein Taxi für 3 km und wandern dann noch 5 km, um die Teilnehmenden bei Kilometer 10 nicht zu verpassen. Angekommen sehen wir aufs Meer und die Steilküste. Es ist bewölkt, windig und uns ist kalt. Doch bald ist Action angesagt. “Bravo Bulgaria bravo” “Viva la France” “Go Portugal go” “Hopp Schweiz, hopp Schweiz” „Go Rumania” “Auf geth‘s Deutschland“ „Go Belgium” „Forca, forca” „Vamos Espania” „Gema, gema Österreich” „Come on Great Britain“ „Bravo Denmark” mit Fahnenschwingen und Glockengeläut. Es ist wunderbar zu sehen, wie die Läufer:innen strahlen wenn wir sie persönlich anfeuern, und wir feuern alle an. Es kommen zwei M75 vorbei. Beeindruckend, was im hohen Alter noch möglich ist. Nun kommen die ersten Läufer nach einer 15 km-Schleife wieder vorbei. „Hopp Schweiz“ – Pierre-André und Cédric sind immer noch auf Gesamtposition vier und fünf. Wir gehen auf der Strecke zurück zum Start. Sobald Michele wieder einen anbrausenden Läufer erspäht, springen wir von der Strecke und es geht weiter mit Anfeuern. An der Spitze der Frauen hat es einen Wechsel gegeben. Die Österreicherin, die im ersten Rennen ebenfalls die falsche Route genommen hatte, führt mit grossem Vorsprung – ich freue mich sehr für sie. Nach dem Rennen bedanken sich viele Läufer:innen bei uns. Sie haben die Glocke schon von weiten gehört und sich auf uns gefreut. Was für eine Gemeinschaft, was für Emotionen! Vielen Dank smrun für die wunderbare Zeit und die herzliche Unterstützung. Und im Herbst ist Berglauf WM in den Pyrenäen. Soll ich, soll ich nicht...
Resultate Vertical Race 5km, +1000m
Schnellste Frau: Monica Carl, GER, W50, 46:40
Siegerin W60: Christine Tanner, SUI, 56:20
Weitere Fotos unter www.smrun.ch
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